Die Dichterin Andra Tischer  ̶  „eine Humanistin par excellence“

Aus den textuellen Rahmenstücken, die zu Andra Tischers Gedichtband Schimb de iubire. Liebestausch Poezii.∙Gedichte gehören, den Beatrice Ungar, die bewährte, äußerst erfolgreiche und verdienstvolle Journalistin, und ebenso emsige und hochgeschätzte Übersetzerin von rumänischer und anderssprachiger Literatur ins Deutsche, übersetzt hat, erfahren wir, dass die Autorin dieses Bandes nach ihrem akademischen Abschluss als Lehrerin für rumänische Sprache und Literatur und zugleich auch als ex-Direktorin am Hermannstädter Octavian-Goga-Nationalkolleg tätig ist. Ebenso ist im Klappentext zu lesen, dass sie sich geistesgeschichtlich von den kulturphilosophischen, künstlerisch und ästhetisch fixierten Bestrebungen des Klausenburger Literaturkreises ableitet, und ebenso von der Zusammenarbeit mit weiteren renommierten Zeitschriften, in denen sie vielfach Gedichte und kritische Aufsätze publiziert hat. Geschrieben steht hier auch, dass Andra Tischer als Redaktionssekretärin tätig war, dass sie zudem als Generaldirektorin eines Kulturmagazins wirkt und dass sie überdies Mitglied des Rumänischen Journalistenverbands (UZPR) ist. Der Klappentext würdigt Andra Tischer als „eine Humanistin par excellence“, die – schließen wir – durch ihren wissenschaftlichen Verstand und ihre schöpferische Kraft zum fühlenden Erlebnis berufen ist. Und damit erreicht der Paratext eine neue Dimension, denn eine höhere Weihe der Dichterin als die im Klappentext ist nicht vorstellbar.

Diese nun nicht nur weihevollen, sondern sicherlich auch aufrichtig gemeinten Töne des Klappentextes haben mich veranlasst, die Leser der Rezension an dieser Stelle wissen zu lassen, dass ich davon zunächst überrascht war und dass ich diese emphatischen, nahezu hyperbolischen Aussagen auf ihre Wahrhaftigkeit überprüfen wollte. Überrascht war ich auch von der Einbandgestaltung dieses schmalen Bändchens. Denn vom Buchumschlag blickt dem Leser das warme Lächeln einer jungen Frau entgegen, das eigenwertig bewirkt, dass die Abbildung der Autorin als beseeltes Bild den Weg zu unserem Herzen findet und die geneigten Leser in einer gewinnenden Art auffordert, ihre Gedichte zu lesen. Und dies, um das Geheimnis zu durchdringen, das sich um ihre Dichtung rankt, von der man zunächst nur vermuten mochte, dass sie kein bloßes Abbild, nicht bloß eine Wirklichkeitskopie sei, sondern vielmehr eine neugeschaffene, neuentworfene mögliche Wirklichkeit, die durch die (vermutlich auch allegorischen) Verse den Leser in ihren Bann zieht.

Andra Tischer

Um mich davon zu überzeugen, habe ich zunächst das Vorwort Ipostaze ale feminității / Hypostasen der Weiblichkeit zum Gedichtband gelesen –, von dem vorneweg gesagt sei, dass es eine Hommage an Andrea Tischer ist, gezeichnet von der erstaunlichen und vortrefflichen Ohara Donovetsky, die wohl auch mit diesem Vorwort der elitären geistigen Anspruchs- und Erwartungshaltung ihrer rumänischen Leser entgegenkommt. Denn Hypostasen sind Personifizierungen eines Begriffs, sind Verdinglichungen von Denk- und Vorstellungsinhalten der Begriffe – so die Fachliteratur –, auch Personifikationen mythologischer Gestalten, und davon handelt das Vorwort: Es ist ein essayistischer Exkurs in die lyrische Vorstellungs- und Erlebniswelt Weiblichkeit bei Andra Tischer. Nachdrücklich hinzugefügt sei, dass auch die Übersetzung dieser Hommage von Beatrice Ungar stammt, die damit sicherlich ihre liebe Mühe hatte. Denn der Stil der rumänischen Geleitworte ist in der Regel überschwänglich – eine Überschwänglichkeit, die für diesen Gedichtband hingegen nicht zutrifft, denn die Vortrefflichkeit der Aussagen und Urteile der hochgeschätzten O. Donovetsky definieren künstlerisch die Dichterin Andra Tischer wie auch die Autorin des Vorworts zugleich.

Ich sage liebe Mühe, denn Lyrik kann in bekannter Weise und erwiesenermaßen – und dies ist eine immer wieder bestätigte Erfahrung – nicht übersetzt, sondern nur nachgedichtet werden. Auch dann, wenn es sich um abstrakte und wohl auch um konkrete Dichtung handelt; die (als abstrakte Dichtung) – so die Fachliteratur – gegen die Symbol- und Bildersprache des Erlebnisgedichts gerichtet ist, und damit gegen das traditionelle Literaturverständnis von literarischen Ausdrucksweisen. Oder (als konkrete Dichtung) sogar auf die syntaktischen Zusammenhänge und oft gar auf das Wort als Bedeutungsträger verzichtet und allein mit dem konkreten Material der Sprache arbeitet: mit Wörtern, Silben und Buchstaben, um unmittelbar eine Aussage zu gestalten. Was im Falle der Gedichte von Andra Tischer ästhetisch und stilistisch nicht zutrifft, auch wenn ihre rumänische Dichtung (wohl an anderer Stelle als an dieser) aus einer anderen Perspektive auf ihre Bildersprache sowie auf ihre eigene Erfassung der Metrik und auf die ihr eigene Reimtechnik zu untersuchen ist.

Nicht jedoch die Übersetzungen ins Deutsche von Beatrice Ungar. Denn Beatrice Ungar hat – so die Fachsprache – als zweisprachige „Leserin“ die Gedichte Andrea Tischers rezipiert, ist von ihrer grundsätzlichen Übersetzbarkeit ausgegangen und hat sie unter den kommunikativ-stilistischen Bedingungen des Deutschen als Zielsprache optimal ins Deutsche transferiert. Den geneigten Lesern bleibt es nun überlassen zu verinnerlichen, inwieweit die Nachdichtungen von Beatrice Ungar „mit dem Erwartungs-, Verständnis- und Bildungshorizont“ der Leser – rezeptionsästhetisch somit – verschmelzen. Auch dies aus der Fachliteratur.

Maßgebend ist im Falle der vorliegenden Übersetzungen jedoch vielmehr – meinen wir –, dass auch bei Beatrice Ungar Sprache identitätsstiftend ist. Und dass literarisch und kritisch gewertet werden kann, dass es einer orthodoxen Dichterin und einer evangelischen Übersetzerin gelungen ist, durch den Reichtum und die Tiefe der beiden Sprachen in einem Kulturvergleich Dimensionen des Kulturbegriffs zusammenzuschließen und durch die zweisprachigen literarischen Formen der Lyrik zugleich „eine Geschichte von Allem“ in sprachliche Bilder umzusetzen.

Diese „Geschichte von Allem“ ist eine Geschichte der großen Motive der Vorstellungs- und Erlebniswelt des „ewig Weiblichen“ bei Andra Tischer, wie das sind die Bilder des facettenreichen Selbst (O. Donovetsky, Vorwort), das in seinen Figuren immer wieder die Dichterin selbst erkennen lässt. Sowie die Bilder des Weges von Ihr zu Ihm (Vorwort), mit all seinen Gegen- und Widersprüchlichkeiten, an dessen ins Unendliche strömenden Enden die Poesie als Sinngebung des Lebens geboren wird oder sich schon befindet (Vorwort).

Und das ist bei Andra Tischer die Poesie des Widerstreits der Hoffnungen und der Absichten, die Poesie der eigenen Fragwürdigkeit und des meisterhaft aufgegriffenen Leidens und der Schmerzen. Offenkundig eine Poesie mit all ihren zerstörerischen Abgründen. Aber auch der überwältigenden Nüchternheit, entsprungen der Ehrlichkeit, aber auch der Notwendigkeit (Vorwort), ebenso – fügen wir hinzu – der Grenzerfahrungen als verheißungsvoller Bogen des Lebenswegs von der Vergänglichkeit zum Wesen des Schönen, der Liebe und des Lebens.

In diesem Sinne möchte man meinen, dass der Titel Schimb de iubire. Liebenstausch, den Andra Tischer ihrem Gedichtband gegeben hat, sowohl der Erfassung des Informationsgehalts der Gedichte dient, darüber hinaus und vielmehr jedoch der Einstimmung und der intuitiven Erfassung der Gedichte, die den geneigten Leser erkennen und verinnerlichen lassen wollen, weshalb sich gewisse Fakten aus dem persönlichen Erleben der Dichterin zu dichterischem Stoff entwickelt haben und manch andere nicht.

Und dies wohl nicht deshalb, weil bestimmte Ereignisse eine nur begrenzte lyrische Entfaltungsmöglichkeit haben oder zeitlich und räumlich so weit zurückliegen, dass ihre poetische Verlegung in die Gegenwart (der Dichterin) der Autorin Andra Tischer selbst keine emotionale oder geistige Befreiung mehr bedeuten. Sondern vielmehr, weil sich uns im persönlichen Erleben der Dichterin eine in ihren Konturen sichtbare Welt der Wunden offenbart, eine Welt der Schmerzen und des Verzichts, ja der Schweigsamkeit des Todes. Eine Welt der Abgründe, an der Andra Tischer offen und unverhohlen, mit einem großen Schmerz, aber mit einem noch größeren, wenn auch ausgeblutetem Herz leidet. Oder im besten Fall eine Welt des Widersprüchlichen und des Unvereinbarlichen, als Ausdruck der Ehrlichkeit oder des Leides, die für die schöpferische Tätigkeit als notwendig erachtet werden: In meinem Herzen ist kein Platz mehr für Blut, oder sie wussten nicht, dass ich ausgeblutet war … . So Andra Tischer, über die Risiken und die Wunden des Schreibens von Bekenntnisdichtung, die sie seit Jahren begleiten (Vorwort).

Eine Bekenntnisdichtung somit, mit der wir durch ihr Leben wandern können. Und man meint zunächst, dass Liebe durch Sich-Verschenken verwandelt, und man muss schon sehr genau hinschauen, um in den Gedichten einen solchen Wandel zu entdecken: von der Zuneigung zur Treue und Beständigkeit, von der Selbstaufgabe zur höchsten Erfüllung.

Denn die Gedichte Andra Tischers sind tiefste Sehnsucht ihres Herzens nach Liebe. Sie sind Bilder einer erschütternde Suche nach lieben und geliebt zu werde, sind „nichts als Seele“. Liebe heißt sich verschenken, jedoch nicht als Selbstverleugnung, sondern als Sinngebung des Lebens, als tiefster „Seinsgrund“ der Dichterin. Die Liebe führt ihren Tag heran, ist Lebenshaltung in ihrem Absoluten, in ihren Forderungen und Irrtümern, ja sogar in ihren Abgründen. Denn am Ende ihres Weges steht allgegenwärtig, verstörend und zerstörerisch Täuschung und Verzicht, Preisgabe und Trennung, Verdrängung und Selbstaufgabe. Stehen die düsteren Bilder der Illusionen und das zersetzende Leid, das „aus der Tiefe“ kommt, de profundis (so Andra Tischer), und steht keineswegs „Gnade und viel Erlösung“, wie sie in diesen Anfangsworten des Psalms 130 (129) der Vulgata (der lateinischen Bibelübersetzung des heiligen Hieronymus) zu finden ist. Am Ende des Weges steht somit keine Vergebung und Gnade, denn der Schlussakt, der nicht gespielte, ist verpasst worden. Das Ende eines Weges durch eine Welt somit, aus der die Dichterin ihre Kosmologie entwickelt hat, die allerdings keineswegs eine Welt der Stille und des Guten allein ist. Über allen Zweifel erhaben ist jedoch ihr Ringen nach Stärkung, Hilfe und Halt, nach Geist und Liebe. Denn in dieser Welt ist von allem die Liebe der Schlüssel zu einer Andra Tischer eignen Wirklichkeit mit ihren menschlichen, psychologischen und erlebnismäßigen Voraussetzungen, die ihr fühlendes Ich erfahren hat.

Abschließend sei darauf hingewiesen – und auch hier mit Rückgriff auf die Fachliteratur –, dass im Sinne des Begriffs von Intertextualität, die „die Geschichte ‚liest‘ und sich in sie hineinstellt“ (nach Horst Fritz, 1994), „das Bild eines ‚Universums der Texte‘“ entsteht, zu dem auch die Gedichte von Andra Tischer als Inter-Text gehören, der in einem „unendlichen Text“ lebt. Und dieser „beschwört in poetischen Bildern den Inter-Text als ‚Widerhallraum‘“ (R. Barthes, zit. von H. Fritz, 1994). Gemeint und verbunden ist damit eine „Entgrenzung des Textbegriffs“ (H. Fritz), und diese gilt ebenso für die von O. Donovetsky im Vorwort zitierten, stilistisch hochstehenden Schriftwerke der Dichter Minulescu, Blaga, Arghezi oder Barbu, Șt. A. Doinaș, Nichita Stănescu usw., die ebenfalls nicht „außerhalb des unendlichen Textes …leben“ können (R. Barthes).

In diesem Sinne möchte ich, rückblickend, zu einer hyperbolischen Darstellung greifen, die ich mir ehemals als fremdes geistiges Eigentum angeeignet habe und die ich hier für die Lyrik der Dichterin Andra Tischer geltend machen möchte: Vom Innersten bewegt, hat ihr die schöpferische Kraft „die Seele nicht getötet, das Herz nicht bezwungen, den Geist nicht vernichtet. Die Hände nicht gebunden.“

Und dies, weil die Liebe der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Und Thomas von Aquin hat einmal gesagt, dass in jeder Wahrheit, von wem sie auch stamme, Gott sei. Und Andra Tischer hat diese Wahrheit in das Haus ihrer Seele gesperrt.

Gerhard Konnerth